Menschen, die ich nicht bemerke…

Fadenvogel lädt ein, über X-beliebige Menschen zu schreiben, die doch ein bißchen mehr sind als sie eigentlich sein sollten. Der Postbote z.B. der immer liebevoll auf das Klingeln verzichtet um den Schlaf der Kinder nicht zu stören und sich dann lieber am Fenster bemerkbar macht.

Ich möchte heute über H. schreiben. H. ist mein Kollege. Kein X-beliebiger sondern einer von 3einen mit denen ich mein Büro teile. Der mich auch wirklich liebevoll und sehr zeit intensiv mit eingearbeitet hat, als ich neu war.

Stuhl

Er ist immer da. Jeden Morgen ist er als erstes im Büro und es vergeht kaum ein Abend, in dem er vor einem von uns das Büro verläßt.

Er nimmt jede Arbeit an und beschwert sich so gut wie nie. Wir haben zwar keinen Kunden- aber regen Kollegen-Besuch im Büro. Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, dass er jemanden abgewiesen oder auf später vertröstet hätte.

Aber: H. ist auch ruhig. Extremst ruhig. Es ist nicht ungewöhnlich, dass in einer Woche oder sogar in einem Monat kein privates Wort fällt. Auch die Frage, ob sein Urlaub schön war beantwortet H. mit “ja”.
Wir haben dann irgendwann auch nicht mehr gefragt.

Es war wie es war und wir hatten anderes im Kopf als uns da Gedanken drüber zu machen. H. war da und mehr war ja auch nicht wirklich wichtig oder auch aus unserer Sicht bemerkenswert.

Bis zu jenem langen Meeting bei dem wir stundenlang auf eine weiße Wand starren mußten an die der Projektor irgendwas flackerte.

Ich wunderte mich noch, dass H. auf einmal genau die selben (dienstlichen) Dinge fragte, die wir ein paar Stunden vorher schon diskutiert hatten. Auch sein hoher Kaffee-Konsum wunderte mich aber hey – was geht mich das an? Wahrscheinlich hätte ich diese Episode – wie viele vermutlich unzählige Episoden vorher –  auch schon längst vergessen, wenn das Meeting einen anderen Ausgang gehabt hätte.

Nach 5 Stunden – ich schaute gerade gelangweilt zu H. – schrie er auf einmal auf. Kein normales Schreien – ich habe es noch heute im Ohr. Es klang bei mir so sehr nach dass ich auch noch danach eine kurze Zeit danach dachte, er schreie immer noch. Gleichzeitig verzog er die Mundwinkel schräg.

Schnell war klar: H. hatte einen epileptischen Anfall.  Keinen einfachen. Sondern einen so schlimmen. So schlimm, dass er ganze 30 Minuten brauchte, bis er seinen Namen wieder wusste. Für sein Geburtstatum brauchte er 45 Minuten.

Niemand von uns hat sich vorher gewundert. Nicht über seine extrem ruhige Art, nicht darüber, dass er so lange im Büro sitzt. .. noch nicht einmal darüber dass er deutliche Narben einer GehirnOP zeigt.
Uns ist sogar erst im Nachhinein aufgefallen, dass er sich so wenig merken kann
Wir alle haben ihn gerne “in Anspruch genommen” aber niemand hat sich um ihn gekümmert.

Er hat dies mit einem sehr starken epileptischen Anfall bezahlt.

Heute glaube ich, dass er vielleicht auch deswegen so ruhig ist weil er einfach nicht will, dass wir mit bekommen, wie es um ihn steht.
Wir haben die Dinge hingenommen und nicht hinterfragt. Sonst wäre uns schon früher einiges klarer geworden.

H. gehörte für mich also auch zu den Menschen, die ich nicht wirklich bemerkt habe.

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3 Gedanken zu “Menschen, die ich nicht bemerke…

  1. Heftig. Eine Sichtweise anders herum. Dinge, die erst klar werden, wenn man alle Details zusammenzählt. Aber die man einzeln gar nicht bemerkt oder auch nicht bemerken will. Danke für deine Geschichte.

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